Perspektiven des Schweigens.

Poststelle 3/10

Wie lässt sich Schweigen schriftlich beschreiben?
Ich bin nicht sicher. Vielleicht so:
Auf den ersten Blick wirkt es leer und inhaltslos, das Schweigen, wie die vorherige Seite. Vor allem jetzt, zu Zeiten der Reizüberflutung und Dauerbeschallung, scheint diese Form der Stille etwas aus der Mode gekommen zu sein. Doch Stille kann voller Botschaften liegen, oft sogar mehr sagen als Worte: Es gibt trauriges Schweigen, betretenes, peinliches Schweigen, aggressives, freudvolles, gerührtes Schweigen. In vielen Situation ist es das kommunikative Mittel der Wahl – wenn es nach einem berühmten Sprichwort geht, sogar das goldene.

Laura Dang und Micha Kranixfeld haben die Kunst des Schweigens nach Bostelwiebeck gebracht. In einem Workshop stellten sie Menschen vor die vermeintlich simple Aufgabe, still zu sein. Thomas Matschoss, der am Seminar teilnahm, sagt rückblickend: „Wenn man zusammen schweigt und dann darüber redet, kriegt man ziemlich viel voneinander mit.“
Für ihn ist das bewusste Schweigen vergleichbar mit dem Empfinden von Menschen, die einen Sinn verloren haben. Blinde Menschen hören oft besser, taube Menschen sehen oft besser, und wer bewusst still ist, der stärkt seine Kanäle für allerlei Eindrücke. „Dieses Schweigen verändert die Art, die Welt wahrzunehmen“, so Matschoss.

Dang und Kranixfeld, beide Kulturschaffende, haben sich zum Ziel gesetzt, den Begriff des Schweigens kritisch und aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. „Welche Arten des Schweigens gibt es? Wer hat das Privileg zu schweigen? Wozu wollen wir nicht mehr schweigen? Über solche Fragestellungen haben wir nachgedacht“, so Kranixfeld.
In ihrem Workshop konnten sich die Teilnehmenden dem Schweigen aus verschiedenen Richtungen annähern, was wohltuend sein kann, aber auch herausfordernd. Wie viel ein schweigender Gegenüber in einem Menschen auslösen kann, zeigte auf eindrucksvolle Weise die Künstlerin Marina Abramovic in ihrer Performance„The Artist Is Present“: Drei Monate lang saß sie sieben Stunden pro Tag im MoMa auf einem Stuhl saß und schwieg Menschen an.

Neben diesen Formen der Auseinandersetzung existiert Schweigen aber auch als gesellschaftlicher Zwang.
Ich habe vor Kurzem ein Interview mit dem Ex-Fußballer Hans Sarpei geführt. Er ist gebürtiger Ghanaer, lebt seit den 90ern in Deutschland und sagt: „Ich bin jetzt 45 Jahre alt und habe 35 Jahre lang geschwiegen. Weil unsere Eltern es uns beigebracht haben; bloß nicht auffallen, bloß keinen Stress machen.“
Menschen aus Minderheiten stehen oft unter Anpassungsdruck. Sie sollen funktionieren, ohne zu stören. Ihre Perspektiven, ihre Probleme, ihre Traumata sind oder waren lange kein Teil des kollektiven Gedächtnisses. Sie wurden nicht beachtet, nicht gehört – und schon gar nicht erfragt.

Etwa Sarpei: Häufig in seiner Karriere hat er – auf und neben dem Platz –Rassismus erlebt. „Zu meiner Zeit hat das niemanden interessiert“, sagt er. Menschen seiner Generation haben sich kaum beschwert, und wenn, dann sind die Hinweise ergebnislos verpufft; etwa der offene Brief in der BILD-Zeitung von den schwarzen Fußballern Anthony Yeboah, Tony Baffoe und Souleymane Sané. An ihren wöchentlichen Spießrutenläufen in der Bundesliga, den rassistischen Schmährufen von ganzen Fankurven, änderte der öffentliche Hilferuf nichts.
Ähnlich geht es vielen Minderheiten: Sie können rufen, klagen, schreien, doch im Ohr der Mehrheit sie sind stummgeschaltet. Vor allem deshalb sind wir bis heute damit beschäftigt, buchstäblich Unerhörtes aufzuarbeiten: Nazi-Gräuel, Kolonialherrschaft, Genozide, Raubbau, Deportierungen. Die Geschichte der Menschheit steckt voller unerzählter Episoden, deren Schrecken totgeschwiegen und deren Zeugen zum Schweigen gebracht wurden.

Zu den traurigen Folgen dieses Musters gehört eine ausgeprägte Geschichtsvergessenheit: Viele blicken in die Vergangenheit, etwa auf Hans Sarpei und die Bundesliga der 90er Jahre und behaupten, dass es so schlimm nicht gewesen sein könne. Schließlich habe sich niemand beschwert, also habe es auch keinen gestört. Dabei missachten sie, dass sich unter dem Mantel des Schweigens vieles verbergen kann, auch Trauer, Schmerz und Leid. Dies ist eine elementare Erfahrung, sei es in der Kindeserziehung, der geschichtlichen Aufarbeitung, dem Umgang mit Minderheiten – oder den besten Freunden: Nur weil Menschen nichts sagen (können), heißt es nicht, dass sie nicht leiden.


Über die gesamte Dauer des 'Zeltplatz der Zivilisation' verwaltet der überregional bekannte Journalist und Fotograf Philipp Awounou die wichtigsten Postdienste vor Ort. Alles was auf dem Zeltplatz passiert, geht über die Poststelle nach draußen. In persönlichen Briefen, griffigen Telegrammen, ganzen Zeitungsartikeln und mit Fotos begleitet, kommentiert und reflektiert Philipp Awounou das Geschehen. Dadurch bleiben wir nicht nur alle auf dem Laufenden, sondern sind zugleich eingeladen, die eigenen Erlebnisse oder Gedanken in neue Fächer zu sortieren.

Wer regelmäßig aus der Poststelle beliefert werden will, kann die Sendungen unter kontakt@jahrmarkttheater.de abonnieren.

Perspektiven des Schweigens.

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Wie lässt sich Schweigen schriftlich beschreiben?
Ich bin nicht sicher. Vielleicht so:
Auf den ersten Blick wirkt es leer und inhaltslos, das Schweigen, wie die vorherige Seite. Vor allem jetzt, zu Zeiten der Reizüberflutung und Dauerbeschallung, scheint diese Form der Stille etwas aus der Mode gekommen zu sein. Doch Stille kann voller Botschaften liegen, oft sogar mehr sagen als Worte: Es gibt trauriges Schweigen, betretenes, peinliches Schweigen, aggressives, freudvolles, gerührtes Schweigen. In vielen Situation ist es das kommunikative Mittel der Wahl – wenn es nach einem berühmten Sprichwort geht, sogar das goldene.

Laura Dang und Micha Kranixfeld haben die Kunst des Schweigens nach Bostelwiebeck gebracht. In einem Workshop stellten sie Menschen vor die vermeintlich simple Aufgabe, still zu sein. Thomas Matschoss, der am Seminar teilnahm, sagt rückblickend: „Wenn man zusammen schweigt und dann darüber redet, kriegt man ziemlich viel voneinander mit.“
Für ihn ist das bewusste Schweigen vergleichbar mit dem Empfinden von Menschen, die einen Sinn verloren haben. Blinde Menschen hören oft besser, taube Menschen sehen oft besser, und wer bewusst still ist, der stärkt seine Kanäle für allerlei Eindrücke. „Dieses Schweigen verändert die Art, die Welt wahrzunehmen“, so Matschoss.

Dang und Kranixfeld, beide Kulturschaffende, haben sich zum Ziel gesetzt, den Begriff des Schweigens kritisch und aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. „Welche Arten des Schweigens gibt es? Wer hat das Privileg zu schweigen? Wozu wollen wir nicht mehr schweigen? Über solche Fragestellungen haben wir nachgedacht“, so Kranixfeld.
In ihrem Workshop konnten sich die Teilnehmenden dem Schweigen aus verschiedenen Richtungen annähern, was wohltuend sein kann, aber auch herausfordernd. Wie viel ein schweigender Gegenüber in einem Menschen auslösen kann, zeigte auf eindrucksvolle Weise die Künstlerin Marina Abramovic in ihrer Performance„The Artist Is Present“: Drei Monate lang saß sie sieben Stunden pro Tag im MoMa auf einem Stuhl saß und schwieg Menschen an.

Neben diesen Formen der Auseinandersetzung existiert Schweigen aber auch als gesellschaftlicher Zwang.
Ich habe vor Kurzem ein Interview mit dem Ex-Fußballer Hans Sarpei geführt. Er ist gebürtiger Ghanaer, lebt seit den 90ern in Deutschland und sagt: „Ich bin jetzt 45 Jahre alt und habe 35 Jahre lang geschwiegen. Weil unsere Eltern es uns beigebracht haben; bloß nicht auffallen, bloß keinen Stress machen.“
Menschen aus Minderheiten stehen oft unter Anpassungsdruck. Sie sollen funktionieren, ohne zu stören. Ihre Perspektiven, ihre Probleme, ihre Traumata sind oder waren lange kein Teil des kollektiven Gedächtnisses. Sie wurden nicht beachtet, nicht gehört – und schon gar nicht erfragt.

Etwa Sarpei: Häufig in seiner Karriere hat er – auf und neben dem Platz –Rassismus erlebt. „Zu meiner Zeit hat das niemanden interessiert“, sagt er. Menschen seiner Generation haben sich kaum beschwert, und wenn, dann sind die Hinweise ergebnislos verpufft; etwa der offene Brief in der BILD-Zeitung von den schwarzen Fußballern Anthony Yeboah, Tony Baffoe und Souleymane Sané. An ihren wöchentlichen Spießrutenläufen in der Bundesliga, den rassistischen Schmährufen von ganzen Fankurven, änderte der öffentliche Hilferuf nichts.
Ähnlich geht es vielen Minderheiten: Sie können rufen, klagen, schreien, doch im Ohr der Mehrheit sie sind stummgeschaltet. Vor allem deshalb sind wir bis heute damit beschäftigt, buchstäblich Unerhörtes aufzuarbeiten: Nazi-Gräuel, Kolonialherrschaft, Genozide, Raubbau, Deportierungen. Die Geschichte der Menschheit steckt voller unerzählter Episoden, deren Schrecken totgeschwiegen und deren Zeugen zum Schweigen gebracht wurden.

Zu den traurigen Folgen dieses Musters gehört eine ausgeprägte Geschichtsvergessenheit: Viele blicken in die Vergangenheit, etwa auf Hans Sarpei und die Bundesliga der 90er Jahre und behaupten, dass es so schlimm nicht gewesen sein könne. Schließlich habe sich niemand beschwert, also habe es auch keinen gestört. Dabei missachten sie, dass sich unter dem Mantel des Schweigens vieles verbergen kann, auch Trauer, Schmerz und Leid. Dies ist eine elementare Erfahrung, sei es in der Kindeserziehung, der geschichtlichen Aufarbeitung, dem Umgang mit Minderheiten – oder den besten Freunden: Nur weil Menschen nichts sagen (können), heißt es nicht, dass sie nicht leiden.


Über die gesamte Dauer des 'Zeltplatz der Zivilisation' verwaltet der überregional bekannte Journalist und Fotograf Philipp Awounou die wichtigsten Postdienste vor Ort. Alles was auf dem Zeltplatz passiert, geht über die Poststelle nach draußen. In persönlichen Briefen, griffigen Telegrammen, ganzen Zeitungsartikeln und mit Fotos begleitet, kommentiert und reflektiert Philipp Awounou das Geschehen. Dadurch bleiben wir nicht nur alle auf dem Laufenden, sondern sind zugleich eingeladen, die eigenen Erlebnisse oder Gedanken in neue Fächer zu sortieren.

Wer regelmäßig aus der Poststelle beliefert werden will, kann die Sendungen unter kontakt@jahrmarkttheater.de abonnieren.