Zivilisation – ein schwieriger Begriff

Poststelle 1/10

Seit drei Wochen ist er eröffnet: der „Zeltplatz der Zivilisation“. Vielem, was im letzten Jahr zu kurz gekommen ist  – Unterhaltung, Austausch, Kultur – wird er Raum und Bühne geben. Auch mir, Philipp Awounou, der die Saison schriftlich begleiten und reflektieren wird.
Ich freue mich, mit Ihnen in das Geschehen rund um das Jahrmarkttheater einzutauchen, sehr sogar, doch bevor wir den Zeltplatz der Zivilisation besuchen, sollten wir zunächst unter den Deckmantel der Zivilisation blicken. Denn dort verbirgt sich Vieles: viel Gutes, viel Schlechtes, und im Grunde fast alles, was wir über unser Selbst- und Weltbild in Europa wissen müssen.
„Die Zivilisation ist eine Veranstaltung, in der wenige unglückliche Menschen viele glückliche Menschen unglücklich machen.“
Professor Querulix, deutscher Aphoristiker und Satiriker

Der Begriff „Zivilisation“, wie wir ihn heute kennen, entsteht im 18. Jahrhundert. Kein Zufall: Das Zeitalter der Aufklärung bricht an, zahlreiche neue Ideen und Philosophien werden geboren. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, unter diesem Slogan entstehen die Grundzüge der modernen Demokratie – und mit ihr eine neue Art des Zusammenlebens.
Die Städte werden größer, die Ernten reicher, menschliches Sein zentriert sich mehr denn je an einer Art humanistischem Leistungsprinzip: höher, schneller, weiter, aber nicht ohne (vermeintliche) Moral und (vermeintliche) Fairness. Gesellschaften werden organisierter, strukturierter, leistungsfähiger, differenzierter. Für diese recht komplexe Form menschlicher Gemeinschaft entsteht in Frankreich ein neues Wort: Civilisation, entlehnt aus dem Lateinischen „civis“, bürgerlich.
Je zivilisierter die Menschheit wird, desto schneller entwickelt sie sich weiter, primär im technischen und wissenschaftlichen Bereich. Sie versteht sich selbst und ihre Welt immer besser, entwickelt zahllose Problemlösungen, Wohlstandsexplosionen und Quantensprünge in diversen Disziplinen sind die Folge.
Vor diesem Hintergrund bedeutet Zivilisation Fortschritt: eine hochentwickelte Kultur, vernunftbegabt, leistungsstark, voller großartiger Errungenschaften.
In vielen Köpfen hören die Vorstellung rund um den Zivilisationsbegriff an dieser Stelle auf. Doch er steht für mehr als Komplexität, Fortschritt oder Verbesserung. Er steht auch für: Überlegenheit, Dominanz, Unterscheidung.

Wenn sich ein Stadtbewohner gegenüber Landlebenden für zivilisert hält, oder ein „Europäer“ gegenüber „Afrikanern“, ein Erwachsener gegenüber Kindern, dann drückt er damit Überlegenheit aus. Etwas Erhabenes scheint der Errungenschaft der Zivilisation innezuwohnen, etwas, das Zivilisierte von Nicht-Zivilisierten angenehm unterscheidet. Diese moralische Wertung gehört zum Wesenskern des Begriffs – seit Tag 1.
Das zivilisierte Europa nutzt ihn aktiv, um sich von primitiven Gesellschafts- und Lebensformen abzugrenzen, quasi als Antithese zur „Barbarei“. So wird der Zivilisationsgedanke zum Grundstein der heutigen „westlichen Welt“ – und fungiert zugleich als wirksame Legitimation für einige der schwersten Frevel der Menschheitsgeschichte.
Als die europäischen Mächte beginnen, eine bis dato ungekannte Expansionspolitik zu betreiben und ganze Kontinente zu unterjochen, entsteht ein moralisches Dilemma. Einerseits verstehen sie sich als aufgeklärt und moralisch erhaben, verpflichtet gegenüber Gott und hohen Werten, andererseits verfolgen sie geopolitische Interessen in einem nie dagewesenen Ausmaß an Rücksichtslosigkeit.
Die USA vertreiben gewaltsam Indigene und versklaven Millionen Westafrikaner, die Briten, Franzosen, Deutschen, Spanier, Italiener bringen nahezu ganz Afrika, Südamerika, Australien und Teile Asiens unter ihre Kontrolle. Vor allem im rohstoffreichen Afrika werden dafür unzählige Menschen entwürdigt, ausgebeutet und getötet.
Das Groteske: All das Morden und Stehlen, diese wahrhaftige Barbarei, nennt man in Europa „zivilisieren“.
Die Machthaber inszenieren sich als zivilisierte Fortschrittsbringer, als intellektuelle Helfer der geknechteten Fremden. Was bei den Kreuzrittern die Religion war, ist bei den Kolonialisten die Zivilisation.

Indem die Anderen zu Unter-Menschen degradiert werden, zu wilden, fast tier-ähnlichen Wesen, denen man den Segen der Zivilisation quasi aufzwingen muss, werden die begangenen Gewalttaten zum notwendigen Übel. Und um diesen Anderen zu definieren, entstehen ausgeprägte Rassegedanken, basierend auf einem simplen Dreisatz: Europa ist weiß, Europa ist überlegen - also müssen Weiße überlegen sein. Dass Hautfarbe und Biologie dabei zum entscheidenden Abgrenzungsmerkmal avancieren, ist ein unwesentlicher Zufall der Natur.
Einige der größten Denker dieser Zeit machen die Rassethesen zu einem zentralen Dogma. Etwa Immanuel Kant mit seinem vielzitierten Satz: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der weißen Rasse.“
Unter den Folgen der Kolonialpolitik leiden und sterben bis heute Menschen. Sie ist der Ursprung vieler Bürgerkriege und aktueller Konflikte, und in moderner Form steht der globale Süden nach wie vor unter Fremdherrschaft. Ein zentrales Mittel, das all das „ermöglicht“ hat, ist der Gedanke, zivilisiert zu sein und sich damit über andere zu stellen.
Bis heute hält sich dieser Überlegenheitsethos, wenn wir über andere Lebensformen sprechen, etwa die sogenannten „unkontaktierten Völker“. Die Frage ist: Worin besteht die Überlegenheit einer Zivilisation, die wirtschaftliche, soziale und politische Abhängigkeiten schafft und ausnutzt? Die über Jahrhunderte im Namen der Zivilisation mordete und ausbeutete? Die rücksichtlosen Raubbau betreibt am einzigen Planeten, den wir zum Leben haben?

Zivilisiert zu sein, heißt nicht per se fortschrittlich zu sein, geschweige denn überlegen. Es steckt keine Tatsache im Begriff Zivilisation. Nur eine Interpretation. Eine Idee, die bis heute Menschenleben kostet. Jeden Tag. Bei all den tollen Errungenschaften, die wir Zivilisierten hervorgebracht haben, sollten wir diese Perspektive nicht vergessen.



Über die gesamte Dauer des 'Zeltplatz der Zivilisation' verwaltet der überregional bekannte Journalist und Fotograf Philipp Awounou die wichtigsten Postdienste vor Ort. Alles was auf dem Zeltplatz passiert, geht über die Poststelle nach draußen. In persönlichen Briefen, griffigen Telegrammen, ganzen Zeitungsartikeln und mit Fotos begleitet, kommentiert und reflektiert Philipp Awounou das Geschehen. Dadurch bleiben wir nicht nur alle auf dem Laufenden, sondern sind zugleich eingeladen, die eigenen Erlebnisse oder Gedanken in neue Fächer zu sortieren.

Wer regelmäßig aus der Poststelle beliefert werden will, kann die Sendungen unter kontakt@jahrmarkttheater.de abonnieren.

Zivilisation – ein schwieriger Begriff

Poststelle 1/10

Seit drei Wochen ist er eröffnet: der „Zeltplatz der Zivilisation“. Vielem, was im letzten Jahr zu kurz gekommen ist  – Unterhaltung, Austausch, Kultur – wird er Raum und Bühne geben. Auch mir, Philipp Awounou, der die Saison schriftlich begleiten und reflektieren wird.
Ich freue mich, mit Ihnen in das Geschehen rund um das Jahrmarkttheater einzutauchen, sehr sogar, doch bevor wir den Zeltplatz der Zivilisation besuchen, sollten wir zunächst unter den Deckmantel der Zivilisation blicken. Denn dort verbirgt sich Vieles: viel Gutes, viel Schlechtes, und im Grunde fast alles, was wir über unser Selbst- und Weltbild in Europa wissen müssen.
„Die Zivilisation ist eine Veranstaltung, in der wenige unglückliche Menschen viele glückliche Menschen unglücklich machen.“
Professor Querulix, deutscher Aphoristiker und Satiriker

Der Begriff „Zivilisation“, wie wir ihn heute kennen, entsteht im 18. Jahrhundert. Kein Zufall: Das Zeitalter der Aufklärung bricht an, zahlreiche neue Ideen und Philosophien werden geboren. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, unter diesem Slogan entstehen die Grundzüge der modernen Demokratie – und mit ihr eine neue Art des Zusammenlebens.
Die Städte werden größer, die Ernten reicher, menschliches Sein zentriert sich mehr denn je an einer Art humanistischem Leistungsprinzip: höher, schneller, weiter, aber nicht ohne (vermeintliche) Moral und (vermeintliche) Fairness. Gesellschaften werden organisierter, strukturierter, leistungsfähiger, differenzierter. Für diese recht komplexe Form menschlicher Gemeinschaft entsteht in Frankreich ein neues Wort: Civilisation, entlehnt aus dem Lateinischen „civis“, bürgerlich.
Je zivilisierter die Menschheit wird, desto schneller entwickelt sie sich weiter, primär im technischen und wissenschaftlichen Bereich. Sie versteht sich selbst und ihre Welt immer besser, entwickelt zahllose Problemlösungen, Wohlstandsexplosionen und Quantensprünge in diversen Disziplinen sind die Folge.
Vor diesem Hintergrund bedeutet Zivilisation Fortschritt: eine hochentwickelte Kultur, vernunftbegabt, leistungsstark, voller großartiger Errungenschaften.
In vielen Köpfen hören die Vorstellung rund um den Zivilisationsbegriff an dieser Stelle auf. Doch er steht für mehr als Komplexität, Fortschritt oder Verbesserung. Er steht auch für: Überlegenheit, Dominanz, Unterscheidung.

Wenn sich ein Stadtbewohner gegenüber Landlebenden für zivilisert hält, oder ein „Europäer“ gegenüber „Afrikanern“, ein Erwachsener gegenüber Kindern, dann drückt er damit Überlegenheit aus. Etwas Erhabenes scheint der Errungenschaft der Zivilisation innezuwohnen, etwas, das Zivilisierte von Nicht-Zivilisierten angenehm unterscheidet. Diese moralische Wertung gehört zum Wesenskern des Begriffs – seit Tag 1.
Das zivilisierte Europa nutzt ihn aktiv, um sich von primitiven Gesellschafts- und Lebensformen abzugrenzen, quasi als Antithese zur „Barbarei“. So wird der Zivilisationsgedanke zum Grundstein der heutigen „westlichen Welt“ – und fungiert zugleich als wirksame Legitimation für einige der schwersten Frevel der Menschheitsgeschichte.
Als die europäischen Mächte beginnen, eine bis dato ungekannte Expansionspolitik zu betreiben und ganze Kontinente zu unterjochen, entsteht ein moralisches Dilemma. Einerseits verstehen sie sich als aufgeklärt und moralisch erhaben, verpflichtet gegenüber Gott und hohen Werten, andererseits verfolgen sie geopolitische Interessen in einem nie dagewesenen Ausmaß an Rücksichtslosigkeit.
Die USA vertreiben gewaltsam Indigene und versklaven Millionen Westafrikaner, die Briten, Franzosen, Deutschen, Spanier, Italiener bringen nahezu ganz Afrika, Südamerika, Australien und Teile Asiens unter ihre Kontrolle. Vor allem im rohstoffreichen Afrika werden dafür unzählige Menschen entwürdigt, ausgebeutet und getötet.
Das Groteske: All das Morden und Stehlen, diese wahrhaftige Barbarei, nennt man in Europa „zivilisieren“.
Die Machthaber inszenieren sich als zivilisierte Fortschrittsbringer, als intellektuelle Helfer der geknechteten Fremden. Was bei den Kreuzrittern die Religion war, ist bei den Kolonialisten die Zivilisation.

Indem die Anderen zu Unter-Menschen degradiert werden, zu wilden, fast tier-ähnlichen Wesen, denen man den Segen der Zivilisation quasi aufzwingen muss, werden die begangenen Gewalttaten zum notwendigen Übel. Und um diesen Anderen zu definieren, entstehen ausgeprägte Rassegedanken, basierend auf einem simplen Dreisatz: Europa ist weiß, Europa ist überlegen - also müssen Weiße überlegen sein. Dass Hautfarbe und Biologie dabei zum entscheidenden Abgrenzungsmerkmal avancieren, ist ein unwesentlicher Zufall der Natur.
Einige der größten Denker dieser Zeit machen die Rassethesen zu einem zentralen Dogma. Etwa Immanuel Kant mit seinem vielzitierten Satz: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der weißen Rasse.“
Unter den Folgen der Kolonialpolitik leiden und sterben bis heute Menschen. Sie ist der Ursprung vieler Bürgerkriege und aktueller Konflikte, und in moderner Form steht der globale Süden nach wie vor unter Fremdherrschaft. Ein zentrales Mittel, das all das „ermöglicht“ hat, ist der Gedanke, zivilisiert zu sein und sich damit über andere zu stellen.
Bis heute hält sich dieser Überlegenheitsethos, wenn wir über andere Lebensformen sprechen, etwa die sogenannten „unkontaktierten Völker“. Die Frage ist: Worin besteht die Überlegenheit einer Zivilisation, die wirtschaftliche, soziale und politische Abhängigkeiten schafft und ausnutzt? Die über Jahrhunderte im Namen der Zivilisation mordete und ausbeutete? Die rücksichtlosen Raubbau betreibt am einzigen Planeten, den wir zum Leben haben?

Zivilisiert zu sein, heißt nicht per se fortschrittlich zu sein, geschweige denn überlegen. Es steckt keine Tatsache im Begriff Zivilisation. Nur eine Interpretation. Eine Idee, die bis heute Menschenleben kostet. Jeden Tag. Bei all den tollen Errungenschaften, die wir Zivilisierten hervorgebracht haben, sollten wir diese Perspektive nicht vergessen.



Über die gesamte Dauer des 'Zeltplatz der Zivilisation' verwaltet der überregional bekannte Journalist und Fotograf Philipp Awounou die wichtigsten Postdienste vor Ort. Alles was auf dem Zeltplatz passiert, geht über die Poststelle nach draußen. In persönlichen Briefen, griffigen Telegrammen, ganzen Zeitungsartikeln und mit Fotos begleitet, kommentiert und reflektiert Philipp Awounou das Geschehen. Dadurch bleiben wir nicht nur alle auf dem Laufenden, sondern sind zugleich eingeladen, die eigenen Erlebnisse oder Gedanken in neue Fächer zu sortieren.

Wer regelmäßig aus der Poststelle beliefert werden will, kann die Sendungen unter kontakt@jahrmarkttheater.de abonnieren.